Zeitjockey
(Peter Dumat)
Es war ein angenehmer Herbstwind, der Ole um die verschnupfte Nase wehte, während er auf dem spärlich bedachten Bahnsteig auf die S-Bahn wartete. Leicht verspätet kam sie auf den Schienen angekrochen und die tief stehende Sonne beleuchtete die schlierigen Ausdünstungen des Stadtatems, die sich glitzernd über die Wagenhaut gelegt hatten.
Nach dem Öffnen der automatischen Türen kreuzten sich die nachmittäglichen Wege der Ein- und Aussteigenden in der metropolitanen Nahverkehrsatmosphäre zwischen gegenseitiger Ignoranz, vorgetäuschter Rastlosigkeit und geübter Apathie. Ole bestieg als Letzter den Wagen, stellte sich in den Gang neben die Tür des abfahrenden Zuges und ließ den Blick durch den Waggon schweifen. Die meisten Leute sahen aus wie neonblasse Großstadtzombies, die gerade ihren häuslichen Gruften oder schlecht gelüfteten Büros entflohen waren. Die Hälfte davon starrte auf elektronische Geräte unterschiedlichster Art und war deshalb nur körperlich anwesend, während der irrende Geist in den Weiten des exterritorialen Datenraums sein Heil vor der realen Lebenssituation suchte.
Derweil wand sich die Bahn ratternd durch die betonierte Landschaft. Wenn sie hielt und die Türen sich wie quer stehende Mäuler öffneten, um die flüchtigen Passagiere in die hektische Umgebung zu entlassen, verschlang sie neue Gäste, die ihr mehrheitliches Übergewicht – egal ob mentaler oder körperlicher Natur – schwerfällig auf freie Plätze im Bauch des friedlichen Ungetüms plumpsen ließen.
Eine Station weiter wurde im Tross der hinein- und herauswogenden Menschen ein Gitarrenspieler in die Bahn geschwemmt. Er postierte sich im Gang unweit der Tür. Das Instrument sah genauso verschrammt und geflickt aus wie sein betagter Inhaber. Als er es jedoch anstimmte, fluteten die schwärmerische Melodie und der kehlige russische Gesang das kühle Abteil mit einer exotischen Wärme, die Ole mit geschlossenen Augen genoss. Das Lied klang wie Sehnsucht, Liebe, Tee und Gewürze, auch wenn er keine Ahnung hatte, worum es wirklich ging. Nach einem weiteren Stück, das sich schwer tat, akustisch gegen die anschwellende Unruhe im Wagen anzukommen, zückte der Sänger seine Schirmmütze und Ole, immer noch beseelt vom wohligen Zauber der ersten Töne, bedachte ihn mit einer großzügigen Spende. Der Herr bedankte sich höflich und schlürfte weiter durch das Abteil. Da sah Ole, wie etwas weißes, das einem zusammengefalteten Kassenbon ähnelte, aus seiner zerschlissenen Jackentasche auf den Boden fiel.
„Warten Sie!“ rief er, bückte sich und reichte dem Mann das sorgsam gekniffte Papier. Der Alte erkannte, worum es ging, bedankte sich überschwänglich und wollte den Zettel bereits zurück stecken, als er plötzlich grübelnd inne hielt, ihn wieder heraus zog und Ole reichte.
„Junger Mann“ sagte er. „Dies ist eine Anleitung gegen die Trübung der Augen und das Vertrocknen des Herzens. Wenn Sie wollen, können Sie einen kurzen Blick darauf werfen. Es ist allerdings nur ausgeborgt, ich brauche es dann wieder.“
Ole hatte sich anstrengen müssen, dem Herrn zu folgen, da er mit einem starken Akzent sprach und zudem durch seinen verwucherten Bart nuschelte. Der Höflichkeit halber nahm er das ihm hingehaltene Papier entgegen und und faltete es vorsichtig auseinander, um zu schauen, was sich hinter diesem sonderbaren Angebot verbarg. Er rechnete mit nichts Erhellendem und war umso erstaunter, als er den Blick auf das geöffnete Blatt in seinen Händen warf. Der A4-große Zettel entpuppte sich nämlich als eine detaillierte Skizze, ähnlich einer technischen Zeichnung, auf der sehr nuanciert Schaltelemente abgebildet waren, die in ihrer Anordnung einer Bedientafel glichen. Rechts und links des Blattes befanden sich zwei größere Regler, die vertikal aufgemalt waren. Dazwischen reihten sich einige kreisrunde Formen, die wohl Drehknöpfe darstellen sollten. Dazu gesellten sich am unteren Rand der Zeichnung ein paar verschiedenfarbige Schalter. Alles wirkte durchdacht und gewissenhaft illustriert, aber Ole verstand leider überhaupt nicht, was ihm dieses Bild sagen sollte. Er schaute von dem Papier auf und wollte dem Herren mit der Klampfe danach fragen, als er merkte, dass dieser nicht mehr bei ihm stand. Verdutzt drehte sich Ole um und durchsuchte mit seinen Blicken den ganzen Wagen, aber von dem Gitarrenspieler fehlte jede Spur.
‚Hatte der nicht gesagt, er wolle das Blatt zurück haben?‘
Ole wandte sich wieder der rätselhaften Malerei in seinen Händen zu, die beim erneuten Betrachten eine eigenartige Lebendigkeit vermittelteund außerordentlich plastisch, ja fast real wirkte. Je länger er den Zettel mit wachsendem Interesse begutachtete, desto größer wurde das Verlangen, ihn zu berühren. Ein wenig musste er über sich selbst schmunzeln, dass er sich anschicken würde, auf ein bemaltes Blatt Papier hereinzufallen, aber die Versuchung war zu groß. Also setzte er einen seiner Zeigefinger auf den rechten Regler des Blattes und tat so, als würde er ihn nach oben schieben.
Schlagartig wurde es Nacht um ihn herum! Ole erschrak und sah auf seinem, in der Dunkelheit plötzlich grün leuchtenden Display, dass sich der Knopf tatsächlich bewegt hatte. Verdattert brachte er den Hebel und damit das Licht im Abteil wieder in die sonnenbeschienene Startposition. Er rechnete damit, dass gleich ein ziemlicher Tumult unter den Fahrgästen losbrechen würde; aber nichts geschah. Auf keinem der blassen Gesichter erkannte er irgendwelche Anzeichen von Überraschung, Verwunderung oder einer anderen ungewöhnlichen Regung.
‚Hatte er sich das eingebildet? Oder konnte es sein, dass nur er selbst wahrnahm, wenn die wunderliche Fernbedienung in seiner Hand etwas veränderte?‘
Ole machte einen zweiten Versuch…
(wie es weitergeht, erfahrt Ihr unter www.smartstorys.at)