Treppenwitz
(Peter Dumat)
Ole wuchs in einem vom rauen Grossstadtwind zerkratzten Hochhaus auf. Darin gab es jede Menge Kinder unterschiedlichen Alters, weshalb immer etwas los war. Im von Plattenbauten gesäumten Hof befanden sich Spielplätze, Rasenflächen, Sandkästen und ein eingezäunter Fußballplatz, auf dem am Wochenende regelmäßig Spiele stattfanden, bei denen es herzhaft zur Sache ging. Am lustigsten aber war es jedoch, wenn sie in dem Neubaublock Verstecken spielten. An vielen Nachmittagen; im Anschluss an die Schule, wenn das Gebäude bis auf die Rentner, Arbeitslosen und Kranken noch relativ leer war, so dass wenig Aufregung und Gemecker zu befürchten war; ging das Spiel folgendermaßen: Das Hochhaus hatte zwei Eingänge mit separaten Treppenhäusern und Fahrstuhlschächten. Haltepunkte für die Aufzüge gab es aber nur in der dritten, siebten und zehnten Etage. Das waren auch die Stockwerke, in denen es einen Durchgang zum anderen Gebäudeteil gab. Meistens spielten zwei Parteien, die jeweils in einer der beiden Haushälften starteten. In der einen Mannschaft waren die Fänger, während sich das andere Team verstecken musste. Wurde einer der Flüchtigen gefasst, musste sie oder er sich den Häschern anschließen und mit suchen. Bewegen durfte man sich aber im ganzen Gebäude.
Eines Tages war Ole in die Gruppe derjenigen eingeteilt worden, die sich verbergen sollten. Sie waren zu dritt und hatten sich in einem der Treppenhäuser aufgeteilt, wobei Ole die obersten Geschosse als sein Startrevier ausgewählt hatte. Aus einer Laune heraus und weil es ihn im Keller gruselte, war er bis in den elften Stock gefahren und gegangen. Taktisch gesehen konnte das problematisch sein, weil man am oberen Ende des Aufganges in der Falle saß. Andererseits war das auch der Grund, warum am wenigsten dort gesucht wurde. In jeder Etage gab es bis zu vier uniform beigebraune Wohnungstüren, die mit mehr oder weniger ausgefallenen Namensschildern verziert wurden, die einen Vorgeschmack auf die Art des Fußabtreters gaben, der sich praktisch vor jeder Tür breit machte. Meistens standen auch noch Schuhschränke auf den ohnehin engen Fluren, die um Klöppeldecken, Blumenvasen, kitschige Bilder oder anderen Tinnef ergänzt wurden, den der Brandschutzbeauftragte garantiert nicht gern sah. Dazu hingen Wochenpläne aus, welche die Einteilung für den Flurreinigungsdienst und damit den sozialpädagogischen Herzrhythmus der Hausgemeinschaft verkündeten.
Auf einem der obersten rechteckigen Korridore lag Ole also bäuchlings umgeben von Staubflusen und lunschte zwischen den Geländerstangen und abgestellten Schuhpaaren hindurch das Treppenhaus herab, um zu sehen, was geschah. Aus der Tiefe drang fernes Kinderkreischen empor, aber er konnte nicht lokalisieren, von wo genau es kam und was das Ergebnis der wahrscheinlichen Jagd gewesen war.
Aber das Geschrei ebbte ab und dann sah und hörte er lange Zeit nichts weiter als das alltägliche Nachmittagstreiben eines vielfach belegten Wohnhauses. Fensterrollos und Geschirr klapperten irgendwo, ein Hund bellte, dumpfe Stimmen erklangen hinter verschlossenen Türen, von unten drang das Geräusch eines lauten Fernsehers oder Radios, aber im Aufgang selbst regte sich nichts. Unangenehm kroch die Stille die Treppe herauf bis in Oles Haarspitzen. Nach und nach wurde er unruhig. Sie würden ihn doch nicht vergessen haben?! Ole erhob sich aus seiner Lauerposition und lauschte noch einmal angestrengt. Als er sich überzeugt hatte, nichts Verdächtiges gehört zu haben, schlich er langsam die Stufen zum zehnten Stock hinunter, wo sich der Fahrstuhl befand. Auf dessen Höhe angekommen vergewisserte er sich vorsichtig, dass niemand am Schacht stand und auch keiner im Korridor, der hinüber ins andere Treppenhaus führte, zu sehen war. Plötzlich ging ein leichtes Vibrieren durch das Haus, was immer dann passierte, wenn sich der Aufzug in Bewegung setzte. Ole war alarmiert. Er kauerte sich schnell an die Wand, hinter welcher, ein paar Meter den Querflur hinunter, der Fahrstuhlausgang war. Hinter ihm lag das Treppenhaus, das er notfalls zur Flucht wählen konnte. Auf den Knie sitzend horchte Ole konzentriert, bis in welches Geschoß der Lift fahren würde. Die dritte Etage musste er schon passiert haben, jetzt kam die siebte und er fuhr weiter. Mit der Gewissheit, dass hier gleich jemand aussteigen würde, wuchs Oles Aufregung in schweißtreibendem Maße. Natürlich konnte das ein normaler Hausbewohner sein, die oder der gerade von der Arbeit oder vom Einkauf kam, aber Ole spürte, dass dem nicht so sein würde. Der Fahrstuhl stoppte. Die Sekunden bis zum Öffnen der Tür verstrichen unerträglich lang. Wie eine Katze auf der Lauer saß Ole hinter der Wand und lugte um die Ecke. Mit einem Ruck quietschte die Aufzugtür auf und ein Gesicht erschien. Es war Karl, sein Kumpel, der mit ihm in eine Klasse ging, aber dieses Mal in der gegnerischen Jägermannschaft war und er sah genau in Oles Richtung und mitten in seine Augen. ‚Verdammt!‘
Mit einem lauten Fluch auf den Lippen machte Ole kehrt und raste die Treppe hinunter. Er nahm mehrere Stufen auf einmal, denn er wusste, Karl war schnell. Mindestens genauso flink wie er selbst und wenn der einen guten Tag erwischt hatte, würde es schwer werden, ihm zu entwischen. Wie ein Derwisch sprang er die Stufen hinunter, hielt sich gleichzeitig am Geländer fest und schwang sich halb fliegend um die engen Kurven, während er hinter sich die polternden Schritte seines Verfolgers hörte. Aber sie waren weniger nah als befürchtet und Ole schöpfte Hoffnung, dass er seinen Vorsprung hatte ausbauen können. Als er auf den Flur des siebten Stockes angekommen war, folgte er seiner Intuition und bog halb laufend halb springend in den Korridor, der auf die andere Seite des Hauses führte. Der Gang war nur spärlich beleuchtet und nach einem weiteren Spurt presste sich Ole an die Wand hinter dem Türrahmen der geöffneten Feuerschutztür, welche die Hälfte der Flurlänge markierte. Hechelnd atmete er an die vergilbte Raufasertapete und versuchte hastig, seinen Puls unter Kontrolle zu bekommen, der wie ein innerer Trommelwirbel auf seine Ohren schlug. Gleichzeitig versuchte er, in den Gang hineinzuhören, von dessen Geräuschen der Fortgang des Rennens abhing. Er meinte, ein entferntes Gepolter wahrgenommen zu haben, das aber plötzlich in verdächtige Ruhe umgeschlagen zu sein schien. Vorsichtig schielte Ole um die Zarge, damit er sehen konnte, was los war. Doch so sehr er auch den Korridor mit seinen Blicken absuchte, von Karl war keine Spur zu entdecken. Ob der auch gerade hinter einer Wand oder auf der Treppe stand und in die künstliche Stille horchte?
‚Egal‘. Leisen Schrittes schlich Ole weiter den Flur entlang und hielt sich nahe an der Wand, um nicht entdeckt zu werden. Als er gerade in das Licht des anderen Treppenhauses trat, hörte er ein ungewolltes Knacken von der gegenüberliegenden Seite. Ein erschrockener Blick verriet ihm, dass es Karl war, der ihn gesichtet hatte und in der Manier eines Sprinters gerade richtig Fahrt aufnahm. Auch Ole startete wieder und schwang sich Ole die Brüstung hinunter, aber dieses Mal war er sich ziemlich sicher, dass sein Vorsprung ausreichen würde, um sich ein neues Versteck zu suchen oder unversehrt zur vereinbarten Abschlagstelle zu gelangen. Karl war zu weit weg und spätestens in der dritten Etage würde er ihn abhängen, wenn nicht weitere Häscher auf ihn lauern sollten. Seine Zuversicht war so groß, dass er nun die letzten zwei Meter des Treppengeländers vor der nächsten Wende auf dem Bauch runter rutschte, was er immer gerne tat, wenn er besonders gute Laune hatte.
Er konnte sich später auch nicht erklären, was genau geschehen war. Vielleicht hatte er die Geschwindigkeit unterschätzt oder war unkonzentriert gewesen, weil seine Gedanken schon die weitere Fluchtroute vorbereiteten. Jedenfalls vermasselte er die Landung in Stockwerk fünf, rutschte wie vom Katapult geschossen über den polierten Boden und krachte mit gestreckten Beinen voran gegen einen der vorderen Standfüße des hier postierten Flurschränkchens. Der ging sofort zu Bruch. Das an sich war schon schlimm genug, aber der Schrank neigte sich nach vorn und zu Oles Schrecken erschien ein gefülltes Aquarium über der abgegriffenen Kante und rutschte ihm wie ein vierseitiges Fallbeil entgegen. Mit einem erschrockenen Schrei warf sich Ole zur Seite und hörte nur noch das ohren-betäubende Scheppern des Aufschlags, das wie ein ins Haus fahrender Donnerschlag durch den Flur peitschte und im dröhnenden Geräusch des berstenden Glases verhallte.
Das Wasser mit den vorher sorgsam drapierten und nun aus ihrem beschaulichen Zuhause kippenden Pflanzen, Kieselsteinen, Muscheln und weiteren dekorativen Accessoires ergoss sich mitsamt den ahnungsvoll zappelnden Fischen über den Flur und das Treppenhaus hinab. Doch damit nicht genug. Einen Augenblick später wurde die gegenüberliegende Tür aufgerissen und ein unausgeschlafen aussehender Typ im Bademantel erschien in der halbdunklen Kümmerlichkeit seiner muffigen Wohnung. Er wollte gerade etwas sagen, was sicherlich nichts Freundliches gewesen wäre, als sich plötzlich ein Hund zwischen seinen Beinen hindurchzwängte und sich mit einem fröhlichen Gebell auf die hilflosen Fische stürzte. Dies machte das Chaos nur noch schlimmer, denn das Gekläffe wandelte sich schnell in ein jämmerliches Gewinsel der messerscharfen Glasscherben wegen, die überall verstreut lagen und auf denen die Hundepfoten herum tanzten, wie auf einem Nagelbett. Am konfusen Ende versank die Szene im von Fischinnereien und Hundeblut getränkten fluiden Bruchglasteppich, dessen besudelter Anblick akustisch vom wechselseitigen Gejammer von Hund und Herr untermalt wurde.
Und Ole, der sich gerade von dem ersten Schock erholt hatte und sich den drohenden Ärger vorstellte, der heute noch über ihm herein-brechen würde, spürte auf einmal eine freundschaftliche Hand auf seiner Schulter. Er drehte sich um und schaute in das mitleidig schadenfrohe Gesicht von Karl, der mit einem unterdrückten Lachen verkündete:
„Hab dich!“