Der Ein-krrk-f
(Peter Dumat)
„Haben Sie die Nummer?“ fragte die Kassiererin in einem enervierten Ton, der unverfroren signalisierte, dass sie schon ahnte, dass dem nicht so war.
‚Welche Nummer?‘
„Welche Nummer?“
„Na, die vierstellige Nummer! Steht doch überall bei die Kleinteile dran. Die brauch‘ ich, sonst kann ich nichts einbongen! Könn‘ sie abfotografieren, sich aufschreiben oder im Kopp merken!“
Sie schaute ihn an, als hätte sie ihn soeben verabschiedet.
‚Aha.‘
Es sollte also Nummern geben, die an bestimmten Stellen im Baumarkt angebracht waren, auf die er nicht geachtet hatte. Natürlich waren nirgends Hinweise diesbezüglich angebracht worden, das wäre wohl zu naheliegend gewesen. Vielmehr musste es scheinbar eine Art professionelle Selbstverständlichkeit sein, dies zu wissen, weshalb seine naive Frage gleichsam ihre amateurhafte Herkunft kundtat.
Jetzt stand er da mit seinen vier Einzelschrauben und der einen Unterlegscheibe. Hinter ihm trampelte die zehn Meter lange Schlange tatkräftiger, unruhiger Wochenendpoliere, die ihr Tagwerk in Gefahr sahen, sollte es nicht bald weitergehen. Vor seinem Geiste erschien die abschreckende Vorstellung, wie er erneut die endlos voll gestapelten Regalreihen des verwunschenen Einkaufslabyrinths würde absuchen müssen, um in der sorgsam kategorisierten Welt der Flach-, Linsen-, Senk- und Rundkopfschrauben mit den unzähligen Längen- sowie Durchmesservariationen des Metallwarensortiments die Angaben zu finden, die den Erwerb seiner verloren auf dem Band liegenden Einzelstücke wahrscheinlicher machen würde.
Er war unentschlossen – gefangen in der Entscheidungsmatrix zwischen der bedingungslosen Kapitulation vor seinem einfachen Wunsch und der Aussicht, eine weitere halbe Stunde kostbarer Lebenszeit in diesem kunstlichtdurchfluteten und Linoleumgeruch schwitzenden Werkstoffalbtraum zu verbringen.
Entrückt starrte er die Kassiererin an, die sich ihrerseits nicht zu rühren schien.
Ein Duell der Regungslosen.
Der Mann hinter ihm räusperte sich geräuschvoll.
„Ein Ideengeber -krrk-itte in die Nummernabteilung! Ein Ideengeber bitte in -krrk-ie Nummernabteilung!“ plärrte der Lautsprecher, von knarzenden Geräuschen unterbrochen, durch den Markt.
Plötzlich schien eine Bewegung über das Gesicht der Verkäuferin zu gehen. Es war wohl nicht ganz freiwillig, denn sie verdrehte verwundert die Augen. Dann blies sie auf einmal ihre Wangen auf, als würde sie die Luft anhalten. Ihr Kopf lief rot an und glich farblich nun ihrer Nylonstrickjacke in der knalligen Tönung des Firmenlogos. Als er schließlich zu platzen drohte, hielt sie es nicht mehr aus und sperrte die Lippen auf wie bei einem stummen Schrei.
Ein Wolke bunter vierstelliger Zahlenkombinationen sprudelte mit der Leichtigkeit von Seifenblasen heraus. Mehr und mehr Ziffern entwichen dem fischähnlich aufgerissenen Maul der Kassiererin und tobten über ihrem Kopf herum, als wären sie ein Schwarm verwandelter Stare. Nachdem sie eine Weile dort umhergeflogen waren, beruhigten sie sich und ballten sich zu einem wabernden Ballon zusammen. Dann purzelten fünf Nummern heraus und verfingen sich in ihrem aufgeregten Haar wie Faschingsschmuck auf einer Party des innerstädtischen Mathematikerstsemesters. Sogleich sprang die Kasse auf und ein Betrag leuchtete im Display auf.
Der junge Mann erwachte aus seiner Trance der Unschlüssigkeit. Als hätte ihn der Blitz der kalkulatorischen Zuvorkommenheit getroffen kramte er das Portemonnaie aus seinem Rucksack, sammelte das passende Geld zusammen, legte es auf das Band und packte seine fünf Sachen ein.
Im nächsten Moment machte der Zahlensalat über dem Kopf der Kassiererin einen Satz nach oben, streckte und verbog sich wie ein ekstatischer Zitteraal, formierte sich dann aber zu einer Art aufgeschlagenem Tischtuch und sank herab zu dem ahnungslosen Käufer.
Dieser schaute verdutzt. Dann jedoch schien er zu verstehen. Vorsichtig stieg er auf den kurz über dem Boden schwebenden Ziffernteppich, der tatsächlich standhielt. Er setzte sich in den Schneidersitz und als er es sich bequem gemacht hatte, hob sich die märchenhaft numerische Sänfte und schwebte lautlos dem Ausgang entgegen und hinaus. Hinter den auf- und zuschnappenden Automatiktüren verschwand er wir ein irrwitziger Gedanke.
Die offen stehenden Münder und Augen der Kassiererin sowie aller Umstehenden begleiteten den sonderbaren Anblick.
„Ein Ideengeber bitte in die -krrrrrk-teilung! Ein -krrrrrrrrrk- bitte in -krrk-ie -krrrrrrrrrrrrrrr…“ Die Durchsage löste sich im eigenen Rauschen auf.
Als das Gemurmel abgeebbt war, blinzelte der vormalige Hintermann, als hätte er zu lange in die Sonne geschaut. Dann gab er sich einen pragmatischen Ruck, packte den Inhalt seines vollgepackten Wagens in wohl durchdachter Reihenfolge zügig auf das leere Band der Kasse, zückte routiniert die zur Kaufhauskette gehörende Rabattkarte und erwartete frohgemut und mit geöffneter Brieftasche die rasche Abfertigung seines Einkaufs.
Es war Samstag, die Zeit drängte.